Das 100-jährige Jubiläum der Geburtsstunde des Züricher Dadaismus im Cabaret Voltaire hat mich auch wieder an Hugo Balls schönes Lautgedicht Karawane denken lassen. Obwohl das Gedicht die Bedeutungsstrukturen der Worte auflöst, ruft es doch vage Assoziationen wach: an Elefanten (jolifanto), an die Schritte von Kamelen (blago bung), das Pfeifen des Wüstenwindes (ü üü ü) oder die Schreie der Kameltreiber (hej tatta gôrem). So lädt es ebenso zum freien Spiel mit der Sprache ein wie zum Nachdenken über die Struktur und den Konstitutionsprozess sprachlicher Bedeutung.
Persönlich verbinde ich mit dem Gedicht die Erinnerung an einen Grundschüler (ich nenne ihn hier Elmar), mit dem ich einmal als Sprachheiltherapeutin zu tun hatte. Gegen sein hartnäckiges Stottern erwiesen sich Hugo Balls Lautgedichte als einzig wirksame Medizin. Elmars Hauptproblem war die extreme emotionale Beteiligung beim Sprechen. Jedes Wort löste sogleich eine solche Fülle von Erinnerungen, Gefühlen und Ängsten in ihm aus, dass es ihm förmlich „die Sprache verschlug“. Hugo Balls Gedichte ermöglichten es ihm, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, ohne dabei durch eindeutige sprachliche Konnotationen behindert zu werden. Gerade die Offenheit des Assoziationsraums, den Hugo Balls sprachliche Kreationen ihm erschlossen, trug dazu bei, seine Hemmungen beim Sprechen zu lösen. Dafür haben wir einander die Karawane in ganz verschiedenen Modulationsarten vorgetragen: als Predigt, als Märchen, als Wutrede oder auch, mit verteilten Rollen, als Gespräch.
So wurde Elmar nicht nur zu einem beeindruckenden Rezitator dadaistischer Gedichte. Er lernte es darüber hinaus auch, entspannter mit der Sprache umzugehen und sein gelegentliches Stottern als quasi „dadaistischen“ Teil seiner Persönlichkeit zu akzeptieren.