Learning Analytics – die große Hoffnung?

Die Digitalisierung wird das Lernen und den Unterricht verändern. Eine wichtige Rolle wird das Konzept „Learning Analytics“ spielen. Dieser Begriff taucht immer wieder im Zusammenhang mit internationalen Bildungsstudien und der Forderung nach effektivem und individualisiertem Lernen auf. Es ist daher unerlässlich, diesen Begriff mit Inhalt zu füllen und sich kritisch mit dem Konzept auseinanderzusetzen. Deshalb hat das GEW-Bundesforum „ Bildung in der digitalen Welt“ eine Fachtagung mit einem Vortrag von Frau Prof. Dr. Sigrid Hartong veranstaltet. Die Referentin hat das Konzept „Learning Analytics“ differenziert erläutert und in den Zusammenhang einer neuen Form von Bildungssteuerung und expandierender Dateninfrastrukturen gestellt. Dass in der Pädagogik Daten von Lernenden erhoben werden, um den Unterricht danach auszurichten, ist nichts Neues. Jede Klassenarbeit, jeder Leistungstest dient diesem Zweck. Das Neue an Learning Analytics ist, dass die Tools nicht allein von Pädagog*innen entwickelt und kontrolliert werden, sondern durch von Informatiker*innen programmierteAlgorithmen. Sie folgen also nicht der Logik der Lerntheorien oder der Entwicklungspsychologie, sondern der Logik der Datenerfassung. Das auch von der Kultusministerkonferenz geforderte Primat der Pädagogik wird hier also außer Kraft gesetzt. Die Fragestellung ist nicht: Wie kann ich die Lernentwicklung besonders gut erfassen und begleiten? Sondern: Welche Daten lassen sich einfach und effektiv erfassen und vergleichen?  Dieses einer Datenlogik folgende Konzept hat natürlich auch Auswirkungen auf die Aufgabenqualität und das Unterrichtskonzept. Bei der Aufgabenbewertung können keine kognitiven Zwischenschritte und Teilkonzepte erfasst werden, wie es in einer qualifizierten Fehleranalyse und bei Lerngesprächen der Fall wäre. Die Bewertung folgt einem Richtig- Falsch-Schema. Deshalb werden Aufgaben konzipiert, die zu diesem Auswertungsschema passen. Diskursive und kommunikative Auseinandersetzungen mit Unterrichtsgegenständen entfallen oder werden minimiert. Innerhalb der Aufgabenstellung sind bestimmte erwünschte Antworten vorprogammiert. Diese werden belohnt, während Umwege, die möglicherweise auch zu einem Ergebnis führen, ausgeschlossen werden. Dies ist eine Abkehr von Formen konstruktiver Didaktik, die gerade die (Re-)konstruktion eines Lerngegenstandes durch die Lernenden voraussetzen. An deren Stelle tritt ein Frage- und Antwortschema, das an reproduktive Unterrichtsformen erinnert. Hinzu kommt: Für die Lernentwicklung wichtige Aspekte wie die kognitiven Konzepte der Lernenden können nicht erfasst werden. Dagegen werden Daten zur Aufmerksamkeit, zur Bearbeitungszeit sowie die reine Fehlerquote erfasst. Es kommt zu einer dauernden Verhaltenskontrolle der Lernenden. Dieser Aspekt ist auch im Hiblick auf Demokratie und Freiheit problematisch. Dies gilt nicht nur für die ständige Verhaltenskontrolle, sondern auch für dasie vorgegebenen Antwortschemata. Demokratie lebt vom Diskurs. Unter der schönen digitalen Oberfläche lassen sich aber unbemerkt auch bestimmte „Wahrheiten“ transportieren und effektiv in die Köpfe bringen.
Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, was mit den erhobenen Metadaten über die Lernenden passiert. Offensichtlich führen die technischen Möglichkeiten der Learning-Analytics-Programmezu großen Rückschritten in der Methodik und Didaktik, einer Einschränkung der Aufgabenqualität sowie zu einer massiven Sammlung problematischer Metadaten. Nichtsdestotrotz feiern verschiedene Stiftungen und Teile der Bildungspolitik das Konzept als innovativ. Der Einsatz digitaler Medien und von Lernprogrammen kann durchaus sehr sinnvoll und bereichernd sein. Es ist die Aufgabe von Pädagog*innen diesen Einsatz pädagogisch zu begründen und in ein Gesamtkonzept einzufügen.

Interessante Lektüre zum Thema: Sigrid Hartong Learning-analytics-2019

 

Bild: Gerd Altmann: Datennetz (Pixabay)

3 Gedanken zu “Learning Analytics – die große Hoffnung?

  1. Pingback: Die anthropologische Wende | Dr. René Sternke

    1. Nachschrift zu https://sternkekandidatkreistagvg.wordpress.com/2020/05/25/die-anthropologische-wende/

      Liebe Ilka,
      beim Nocheinmaldurchlesen gefällt mir meine Kritik nicht und sie kommt mir aggressiv, besserwisserisch und rechthaberisch vor, denn sie wird Deiner konzisen Analyse nicht gerecht, die den inhumanen Kern des Konzepts „Learning Analytics“ bereits klar herausstellt. Natürlich habe ich recht, wenn ich sage, dass man ein solches Konzept in einen menschlichen und menschenfreundlichen pädagogischen Ansatz, wie Du ihn auf Deiner Seite vertrittst, nicht integrieren, sondern bestenfalls seinen in- und antihumanen Kern menschlich und menschenfreundlich überkleistern und maskieren kann. Meine Rechthaberei kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich selbst vollkommen ratlos bin, wenn es darum geht, eine solche antihumane Tendenz, wie sie sich in der Künstlichen Intelligenz – ist eine Intelligenz, die nicht versteht, überhaupt eine Intelligenz? – manifestiert, in der Schule oder auch nur im eigenen Privatleben abzuwehren, wenn sie beinahe schon die gesamte Menschheit erfasst und zu beherrschen begonnen hat.
      Viele Grüße
      Dein René

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